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Für eine Diagrammatik der An-Verwandlung. Zu Katja Pudors Beethoven-Zeichnungen

DIAGRAMM
In jüngeren Diskursen um künstlerische Diagramme wird meistens der Aspekt der Übertragung von theoretischen oder kognitiven Inhalten verhandelt. Es ist die Rede davon, dass Diagramme Modelle seien, komplexe Darstellungen von relationalen Sachverhalten, weniger Abbilder von Gegenständen des Fühlens und des Wahrnehmens. Das Diagramm veranschaulicht, macht sichtbar, doch es hat auch seinen Anteil am Affektiv-Materiellen.¹ Mit Blick auf Katja Pudors Werkkomplex der Zeichnungen nach Sonaten von Ludwig van Beethoven könnte man diese Definition des Diagramms versuchsweise ausweiten und es nicht als reines Gedanken-Bild, sondern als grafische Repräsentation affektiv-körperbezogener Anverwandlungsprozesse und von Einfühlungsgesten verstehen.
Pudors Zeichnungen der Beethoven-Sonaten sind einerseits methodisch und konzeptionell entstanden, sie folgen einem zuvor festgelegten gewissen Setting, einer dezidierten Wahl des Papiers, der Zeichenutensilien, der Selektion der spezifischen Einspielung der Musikstücke, einer räumlichen Situierung, um dann während der tatsächlichen Aktion in einen anderen Modus überzugehen: den der empathischen Aufzeichnung und Übertragung.
Die Aufnahme wird abgespielt, die Künstlerin agiert und reagiert auf die so vermittelte auditive wie sensorische Information. Der Prozess der musikalischen Erfahrung geht durch die Künstlerin hindurch wie ein Energiestrom durch einen Transformator. Diagramme sind visuelle Übersetzungsmaschinen, die ihr Material nach den unterschiedlichsten Prinzipien organisieren, meist in eine andere Sprache als die der Syntax und der Semantik von Worten. Die sich auf dem Papier niederschlagende seismische Energie wird zur Chiffre für die komplexen vielfältigen Prozesse, die während des Hörvorgangs in der Künstlerin ablaufen. Dekonstruktion und Konstruktion, kognitive wie emotionale Prozesse, die sich gegenseitig aufladen.
Anders als in den Live-Transmissionen der Künstlerin Morgan O′Hara² oder den grafischen Übertragungen von William Anastasi folgen Pudors Zeichnungen anderen Gesetzen. O′Haras Ansatz ist es beispielsweise, den Bewegungen von Händen zu folgen. Sie nimmt Musik über die Gesten der Interpreten wahr, der Musiker oder der Dirigenten. Nicht der Klang, sondern das visuelle Zeichen ist ihr Material. Sie zeichnet dabei beidhändig, je einen Stift oder ein ganzes Bündel in den Händen, den Blick auf die Aktion gerichtet. Ihr Œuvre seit den 1980er-Jahren ist ein nicht abgeschlossener Katalog von Aktivitäten der menschlichen Hand.
Wiliam Anastasi hingegen lässt seinen Körper als Seismograf die Bewegungen der New Yorker U-Bahn aufzeichnen.³ Seine Pocket Drawings oder auch Subway Drawings der späten 1960er-Jahre sind entstanden, als er beim Laufen oder U-Bahnfahren gefaltete Papiere in der Manteltasche bezeichnet hat. So wird der ansonsten dominierende Sehsinn bei ihm systematisch ausgeschlossen, stattdessen werden allein die rhythmischen Impulse registriert, die von außen auf ihn eindringen - gewissermaßen blind. Beide Künstler transformieren externe Sinneseindrücke, Phänomene motorischer Natur, wobei die Ursprungsquelle bei O′Hara die musikalische Performance ist. Die Handlung selbst vollzieht sich als performativer Akt, der festen ritualisierten Codes folgt.

AN-VERWANDLUNG
Pudors künstlerische Praxis, der performative Ansatz, der sich im Titel der Ausstellung "I Feel Like a Dancer, a Choreographer, a Pianist" niederschlägt, verweist darüber hinaus auch auf einen Kernpunkt ihrer ästhetisch-ethischen Haltung, das Prinzip Alterität. Sie, die zeichnende, schreibend-zeichnende und auch schneidend-zeichnende Performance-Künstlerin positioniert sich in ihren Tätigkeiten in einem Feld von Beziehungen zu anderen. Sie zitiert den Philosophen Byung Chul Han: „Wer das Andere sich aneignet, bleibt sich nicht gleich. Die Aneignung zieht eine Verwandlung des Eigenen nach sich. ... Nicht nur das Subjekt der Aneignung, sondern auch das angeeignete Andere verwandelt sich.” Diese Praxis der mehrfachen Transformation stellt den Bezugsrahmen her, vor dem die Werke rezipiert werden sollten.

Der französische Autor Paul Valéry formuliert es ähnlich: „Man bedarf eines Anderen, um Selbst zu sein. Somit sind die Anderen und Selbst zusammengehörige Bedingungen - für das Funktionieren der mentalen Maschine, die zwischen diesen beiden Polen arbeitet. Das Selbst ist einfach das Nicht-Andere, und darin liegt seine Identität, seine Einzigartigkeit. Und das Andere ist unendlich veränderlich. Dies ist wie beim Auge, das dem unendlich vielen Sichtbaren entgegensteht - eines gegen alles, und das durch alles oder alles Erblickte determiniert wird als das Nicht-zu-ihm-Gehörige.”⁴

„Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß. Ästhetisch genießen heißt, mich selbst in einem von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand genießen, mich in ihn einfühlen,” so schreibt Wilhelm Worringer 1907 in seiner Dissertation Abstraktion und Einfühlung, die den künstlerischen Empathie - Begriff bis in die jüngeren philosophisch-ästhetischen Debatten geprägt hat.5 Intersubjektivität - die Wahrnehmung des Selbst im Anderen und des Anderen im Selbst - das Erweitern des eigenen Horizonts durch die "spekulative" Innnensicht auf das "Andere" durch das Andere zurück auf das Selbst. Die vielfältigen Beziehungsstränge, die in dieser temporären Öffnung des Selbst zu anderen Entitäten liegen, ermöglichen eine Aufladung der eigenen Sinnesmechanismen durch die "imaginierten" oder als real wahrgenommenen anderen.
Katja Pudor spricht vom Körper als Archiv der Erinnerung, als Speicher von Handlungen. Das Schreiben, das Neuschreiben, das Umschreiben, das Überschreiben sind alles Strategien der Künstlerin, diese Archive zu öffnen, für sich selbst und andere. In der Regel versteht man unter einer musikalischen Notation eine schriftliche Festlegung von Tönen, von Tonhöhe, Dauer, Tempo und Tonstärke - all dies folgt einer konventionalisierten Schrift, die lesbar und rekonstruierbar, das heißt wiederaufführbar sein sollte. Notation in diesem Sinne meint: strukturiertes Symbolsystem, das den Interpreten als Partitur in die Hand gegeben wird. Pudors Arbeit basiert auf Strategien der Wiederholung, sie arbeitet nicht mit einer einzigen Komposition, sondern mit einer Folge von 32 Musikstücken. Sie rezipiert das Material nicht nur im einmaligen Hören, sondern immer wieder und immer aufs Neue, bis es zu einer Sedimentierung des Klangerlebnisses kommt, zu einer Ablagerung, einer Einschreibung in den Körper, bevor sie schließlich eine Sonate zu Papier bringt.
Die so entstandenen Zeichnungen präsentieren sich dem Betrachter als durch das Temperament der Künstlerin gefilterte ästhetische Produkte, die im inneren Dialog mit dem Komponisten, dem jeweiligen Interpreten und vielfach komplexen äußeren Umständen dieser Versuchsanordnung entstanden sind, dessen Lektüre wohl aber kein Musiker in die Musik Beethovens rückübersetzen könnte.

Für den Synästhetiker Wassily Kandinsky war das Verhältnis zur Musik untrennbar mit den anderen Sinneseindrücken gekoppelt. Seit der oft zitierten Lohengrin-Aufführung in Moskau 1895, während der er starke innere Farbwahrnehmungen hatte, wurde die klangliche Erfahrung zum starken Impulsgeber seiner Bildproduktion. Und die abstrakte nicht gegenständliche Formensprache kam ihm hierbei ideal gelegen, da sie die Emotionalität der Musik eher zu beschreiben in der Lage war als die Figuration. „Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt. So ist es klar, daß die Farbenharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muß.”6 Katja Pudors Beethoven-Zeichnungen haben in der aktuellen Szene der internationalen Zeichenkunst zwar Vorläufer, jedoch haben diese für ihre Arbeit nicht unmittelbar Referenzbedeutung.

Im Jahr 2012 hat die Künstlerin Jorinde Voigt ebenfalls eine Serie von 32 Zeichnungen geschaffen, die sich mit den Piano-Sonaten auseinandersetzen.⁷ Hierbei handelt es sich jedoch nicht um Interpretationen der Kompositionen, die in Realzeit beim Hören der Musik entstanden sind, so wie Pudor sich ihrem Material nähert, sondern es sind eher Sezierungen, Strukturanalysen der Notationen und des zeichnerischen Prozesses selbst. Voigt schreibt hierzu: „Wie ist es möglich, Ludwig van Beethovens Musik auf universeller Ebene zu betrachten, ohne dass eine neue Notation dabei zu einer reinen Interpretation der Musik werden würde?” Sie versuchte eine "Interpretation" zu entwickeln, die das äuß erst emotionale Spektrum "extrahiert", das in einer Beethoven-Komposition eingebettet ist. Diese Extraktion geschieht entlang der konstruktiven Struktur der Urtext-Partitur, welche das Erleben der Musik transportiert und kommuniziert."⁸

Beim Musikhören fällt die Trennung zwischen Mensch und Welt, der Mensch überwindet seine Haut oder, umgekehrt, die Haut überwindet ihren Menschen. Die mathematische Schwingung der Haut beim Musikhören, die sich dann auf die Eingeweide, aufs "Innere" überträgt, ist "Ekstase", ist das "mystische Erlebnis". Beim Musikhören findet der Mensch sich selbst, ohne die Welt zu verlieren, und er findet die Welt, ohne sich selbst zu verlieren.⁹

Pudors Beethoven-Zyklus ist das Resultat einer künstlerischen Recherche, die noch nicht abgeschlossen scheint, die in ihren Voraussetzungen, Konditionen und Perspektivhorizonten auf eine Praxis verweist, die auf verschiedenen elementaren Grundpfeilern ruht. Die Arbeit ist performativ und essentiell zeitbasiert im Sinne einer Betrachtung von Handlungen, die die grundsätzliche Natur von Zeit und ihren Schichtungen und Verdichtungen reflektiert. Realzeit, subjektive Zeit, historische Zeit fallen hier in eins. Konzentration und Wahrnehmung, die des Selbst und des Anderen - sei es ein Objekt oder eine Person - werden zu Prinzipien, die den zeichnerischen Prozess initiieren und begleiten. Das zeichnerische Repertoire ist dabei immer situationsgemäß adaptiert, von der Mikrogeste, des nervös-kritzelnden Erspürens von Formen bis hin zu kraftvollen Schwüngen und dezidierten Setzungen auf dem Papier. Der Körper ist dabei immer Akteur und Rezipient zugleich, Kontrollorgan und Katalysator. Die gefühlte Identität von Tänzerin, Choreografin und Musikerin wird real. Die Linien manifestieren sich durch eine Energie, die aus der Musik strömt wie zu gleichen Teilen aus der Künstlerin selbst. Allein so gelingt es ihr, einen Klang zu evozieren, der in den Betrachtenden resoniert und weiterwirkt.

Jan-Phillip Frühsorge (Kunsthistoriker, Kurator), 2021


1 Siehe Susanne Leeb: Materialität der Diagramme, Berlin 2012, S. 12
2 Vgl. Susanne Leeb: "Graphic Recording: Morgan O′Hara′s Live Transmission between Art
and Science", in: The Encyclopedia of Live Transmissions, Bd. 5, London 2013
3 Vgl. Afterimage: Drawing Through Process, Cornelia Butler (Hg.), Ausst. Kat., Los Angeles 1999
4 Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers, ausgewählt
und mit einem Essay von Thomas Stölzel, Frankfurt/M. 2011, S. 140
5 Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung (1907), Amsterdam 1996, S. 37
6 Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, München 1911
7 Tinte und Bleistift auf Papier, jeweils 86,5 x 140 cm
8 Vgl. Franz W. Kaiser: Jorinde Voigt - Ludwig van Beethoven Sonatas 1-32, Ostfilern 2015
9 Villem Flusser: „Die Geste des Musikhörens„ (1991), in: A House Full of Music,
Strategien in Musik und Kunst, Ralf Beil, Peter Kraut (Hg.), Ausst. Kat., Darmstadt 2012